Wissenschaftsleugnung

Jim Inhofe 2015 bei einer Senatsrede, bei der er mit einem Schneeball gegen die Existenz der menschengemachten globalen Erwärmung polemisierte

Wissenschaftsleugnung (englisch science denial oder science denialism) bezeichnet das gesellschaftliche Phänomen, dass wissenschaftlich unstrittiges Wissen durch bestimmte Personengruppen oder Organisationen abgelehnt oder rundheraus geleugnet wird. Im deutschsprachigen Raum hat sich bisher noch kein allgemein etablierter Begriff durchgesetzt; neben dem aus dem englischen Sprachraum stammenden eingedeutschten Begriff „Denialismus“ und dem Begriff „Wissenschaftsleugnung“ wird hier teilweise auch von Wissenschaftsverweigerung,[1] Denialismus[2] oder Leugnismus[3][4] gesprochen. Die entsprechenden Personen werden im Deutschen u. a. als Wissenschaftsleugner[5] bezeichnet.

Ursprünglich wurde der Begriff „denialism“ mit der Bedeutung der „systematischen und ideologisch motivierten Negierung von Realität und Wahrheit“ zunächst vor allem für die Holocaust-Leugnung, also eine Leugnung gesicherter Erkenntnisse der Geschichtswissenschaften, verwendet. Heute wird er jedoch deutlich breiter genutzt, unter anderem für die Klimawandelleugnung, das Bestreiten der Mondlandung oder die Aids-Leugnung.[6] Ebenfalls zum Denialismus gezählt werden unter anderem die Ablehnung der Evolutionslehre durch Anhänger des Kreationismus oder seiner Unterform Intelligent Design, das Abstreiten der Relativitätstheorie (also die Leugnung gesicherter Erkenntnisse der Physik), das Vorgehen von Impfgegnern, das Leugnen der gesundheitsschädlichen Folgen des Tabakkonsums[7] und das Abstreiten der gesundheitsschädlichen Auswirkungen der Luftverschmutzung.[8] 2020 kam es im Zuge und Kontext der COVID-19-Pandemie zu einem starken Anstieg der Wissenschaftsleugnung samt Verschwörungstheorien zum Thema.[9]

Unterschieden werden kann grob zwischen einer persönlichen Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Privatpersonen und einem öffentlichen Leugnen durch Organisationen und Personen mit dem konkreten Ziel, die Öffentlichkeit bezüglich wissenschaftlicher Erkenntnisse hinters Licht zu führen.[10] Die Leugnung selbst kann aktiv oder passiv sein (abhängig davon, ob der Leugner im Streit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen liegt oder nicht), nach innen oder nach außen gerichtet (d. h. auf Selbsttäuschung ausgelegt sein oder auf Täuschung anderer, wie beispielsweise bei Desinformationskampagnen durch Industriegruppierungen), und sie kann viele unterschiedliche Gründe haben. Hierzu zählen unter anderem die Belohnung mit materiellen Vergütungen oder immateriellen Gütern wie beispielsweise die Anerkennung durch oder die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen.[11] Manche Formen der Wissenschaftsleugnung können vergleichsweise harmlos sein, viele aber sind ausgesprochen gefährlich[9] und können sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene tödliche Folgen haben.[12] Gefährdet sein kann dabei sowohl das Leben von Leugnern selbst als auch das von Unbeteiligten.[13] Beispielsweise hatten und haben insbesondere die Klimawandelleugnung, das Bestreiten des Zusammenhangs zwischen Rauchen und Lungenkrebs, die Impfskepsis und die Aidsleugnung verheerende Auswirkungen. Allein die Aids-Leugnung der südafrikanischen Regierung Thabo Mbekis führte zu geschätzt mehr als 330.000 vermeidbaren Todesfällen.[14]

Die Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse tritt vor allem dort auf, wo (Interessen-)Gruppierungen aus persönlichen Motiven ein starkes Interesse daran haben, einen wissenschaftlichen Konsens in einem Gebiet zu bestreiten. Häufig werden dabei Gefahren oder negative Auswirkungen heruntergespielt oder kleingeredet.[15] Ursachen des Denialismus sind sowohl grundsätzliche Verständnisprobleme der wissenschaftlichen Methode als auch bewusste Desinformationskampagnen durch Industrieunternehmen und Lobbyverbände, wie sie z. B. von der Tabakindustrie, der DDT-Industrie oder der Bleiindustrie betrieben wurden.[16] Ziel solcher Kampagnen ist es hierbei, wissenschaftlich anerkannte Lehrmeinungen (Theoreme) zu verwerfen, über die in der Forschung ein breiter Konsens existiert.[17] Zwischen diesen einzelnen Formen der von Interessengruppen vorangetriebenen organisierten Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse existieren personelle, organisatorische und finanzielle Verbindungen.[18] So gingen einige der Personen, die zunächst für die Tabakindustrie die Gesundheitsgefahren des Tabakkonsums bestritten hatten, später dazu über, die Umweltwissenschaften zu attackieren und die Gefahren des Ozonlochs oder des Klimawandels zu leugnen.[19] 2020 begannen wiederum Akteure der US-Klimawandelleugnerbewegung ihre mediale Reichweite zu nutzen, um die COVID-19-Pandemie infrage zu stellen.[20]

Als die mit großem Abstand am besten koordinierte und mit den größten finanziellen Ressourcen ausgestattete Form des Denialismus gilt die organisierte Leugnung des menschengemachten Klimawandels, die darüber hinaus auch das Rückgrat des generellen Kampfes gegen Umweltforschung und Umweltschutz darstellt.[21] Diese organisierten Kampagnen zur Leugnung des menschengemachten Klimawandels sowie seiner Auswirkungen begannen praktisch in dem Moment, als der Klimawandel Ende der 1980er Jahre öffentliches Interesse erregte.[22]

Da Wissenschaftsleugnung auf dem Nicht-Wahrhaben-Wollen wissenschaftlicher Erkenntnisse basiert, wird davon abgeraten, hierfür den Begriff „Skeptizismus“ zu nutzen, da dies eine offensichtliche Falschbezeichnung sei.[23] Kritik, „Skeptizismus“ und die Falsifikation von Hypothesen sind Kern wissenschaftlichen Arbeitens. Wissenschaftsleugnung zielt hingegen auf die Ignoranz des wissenschaftlichen Diskurses und nicht auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft. Leugnerbewegungen versuchen dabei, die Wissenschaft an sich zu untergraben, um das öffentliche Verständnis der wissenschaftlichen Methoden zu entstellen und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Institutionen hervorzurufen.[24] Begleitet wird Wissenschaftsleugnung oft von Wut und Aggressionen gegenüber Wissenschaftlern, beispielsweise in Form von verbalen Attacken, Bedrohungen, Einschüchterungsversuchen, (Online-)Mobbing, öffentlichen Beschimpfungen oder beleidigenden E-Mails. Solche Attacken können impulsiv begangen werden, beispielsweise als Reaktion auf unliebsame Forschungsergebnisse, werden teils aber auch strategisch durch Interessengruppen wie die Tabakindustrie eingesetzt.[13]

  1. Anna Durnová: Der ‚March for Science‘ als Schauplatz der gesellschaftspolitischen Polarisierung zwischen Elite und Volk: ein interpretativer Beitrag zur Analyse von Postfaktizität. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft. Band 29, Nr. 2, 2019, S. 345–360, doi:10.1007/s41358-019-00186-3.
  2. Über den Denialismus. Informationsethik. Abgerufen am 19. Januar 2018.
  3. Glaube an Scheibenwelt. Flachwitz. In: Spiegel Online, 13. August 2017. Abgerufen am 22. September 2017.
  4. Die besten neuen Wörter 2017. In: Aargauer Zeitung, 27. Dezember 2017, abgerufen am 19. Januar 2018.
  5. Neue Strategie gegen Desinformation zum Klimawandel: ein logisches Seziermesser ansetzen. In: Klimafakten, 3. Juli 2018. Abgerufen am 3. Juli 2018.
  6. Vgl. Emanuela Fronza: Memory and Punishment. Historical Denialism, Free Speech and the Limits of Criminal Law. Den Haag 2018, S. 6.
  7. Sven Ove Hansson: Science denial as a form of pseudoscience. In: Studies in History and Philosophy of Science. Band 63, 2017, S. 39–47, hier: S. 40, doi:10.1016/j.shpsa.2017.05.002.
  8. Annette Peters et al.: Promoting Clean Air: Combating “Fake News” and “Air Pollution Denial”. In: The Lancet Respiratory Medicine. Band 7, Nr. 8, 2019, S. P650–652, doi:10.1016/S2213-2600(19)30182-1 (Institute of Epidemiology, HelmholtzZentrum München (Internetarchiv)).
  9. a b Michael A. Peters, Tina Besley: Education and the New Dark Ages? Conspiracy, social media and science denial. In: Access: Contemporary Issues in Education. Band 40, Nr. 1, 2020, S. 5–14, doi:10.46786/ac20.3082.
  10. Stephan Lewandowsky u. a.: NASA Faked the Moon Landing—Therefore, (Climate) Science Is a Hoax: An Anatomy of the Motivated Rejection of Science. In: Psychological Science. Band 24, Nr. 5, 2013, S. 622–633, doi:10.1177/0956797612457686.
  11. Matthew H. Slater et al.: Denialism as Applied Skepticism: Philosophical and Empirical Considerations. In: Erkenntnis. Band 85, 2020, S. 871–890, doi:10.1007/s10670-018-0054-0.
  12. Henning Hopf et al.: Fake science and the knowledge crisis: ignorance can be fatal. In: Royal Society Open Science. Band 6, Nr. 5, 2019, doi:10.1098/rsos.190161.
  13. a b Sara Prot, Craig A. Anderson: Science denial: Psychological processes underlying denial of science-based medical practices. In: A. Lavorgna, A. DiRonco (Hrsg.): Medical Misinformation and Social Harm in Non-science-based Health Practices. New York 2020, S. 24–37, hier: S. 24f.
  14. Debunking science denialism. In: Nature human behavior. Band 3, 2019, S. 887, doi:10.1038/s41562-019-0746-8.
  15. James C. Russell, Tim M. Blackburn: The Rise of Invasive Species Denialism. In: Trends in Ecology & Evolution. Band 32, Nr. 1, 2017, S. 3–6, doi:10.1016/j.tree.2016.10.012.
  16. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Holtcamp.
  17. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Diethelm.
  18. Sven Ove Hansson: Science denial as a form of pseudoscience. In: Studies in History and Philosophy of Science. Band 63, 2017, S. 39–47, hier: S. 39, doi:10.1016/j.shpsa.2017.05.002.; vgl. auch Naomi Oreskes, Erik M. Conway: Die Machiavellis der Wissenschaft. Weinheim 2014.
  19. Naomi Oreskes, Erik M. Conway: Die Machiavellis der Wissenschaft. Weinheim 2014, u. a. S. 27f.
  20. Jörg Radtke, Emily Drewing, Jenny Zorn, Miranda Schreurs: Doubt every crisis! Klimawandelleugnung in Zeiten der Pandemie. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Band 33, Nr. 4, 2020, S. 815–828, hier S. 816, doi:10.1515/fjsb-2020-0072.
  21. Karin Edvardsson Björnberg et al.: Climate and environmental science denial: A review of the scientific literature published in 1990–2015. In: Journal of Cleaner Production. Band 167, 2017, S. 229–241, hier: S. 235, doi:10.1016/j.jclepro.2017.08.066.
  22. Riley E. Dunlap, Peter J. Jacques: Climate Change Denial Books and Conservative Think Tanks: Exploring the Connection. In: American Behavioral Scientist. Band 57, Nr. 6, 2013, S. 699–731, hier: S. 699, doi:10.1177/0002764213477096.
  23. Karin Edvardsson Björnberg et al.: Climate and environmental science denial: A review of the scientific literature published in 1990–2015. In: Journal of Cleaner Production. Band 167, 2017, S. 229–241, hier: S. 237, doi:10.1016/j.jclepro.2017.08.066.
  24. Tara C. Smith, Steven P. Novella: HIV Denial in the Internet Era. In: PLOS Medicine. Band 4, Nr. 8, 2007, S. 1312–1316, doi:10.1371/journal.pmed.0040256.g001.

© MMXXIII Rich X Search. We shall prevail. All rights reserved. Rich X Search