Goldene Regel

QVOD TIBI HOC ALTERI – „Was [du] dir [wünschst], das [tu] dem andern“. Inschrift am Braunschweiger Gewandhaus

Als Goldene Regel (lateinisch regula aurea; englisch golden rule) bezeichnet man einen alten und verbreiteten Grundsatz der praktischen Ethik,[1] der auf der Reziprozität menschlichen Handelns beruht, in konventioneller Formulierung:

„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“

Die negative, präkonventionelle Fassung ist als gereimtes Sprichwort bekannt, bei dem das „dass“ oft auch als „das“ mit einem s wiedergegeben wird, ohne dass der Sinn dabei verlorenginge:

„Was du nicht willst, das[s] man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“[2]

Anglikanische Christen prägten den Ausdruck golden rule seit 1615 zunächst für die in der Bibel überlieferten Regelbeispiele (Tob 4,15 ; Mt 7,12 ; Lk 6,31 ), die das Toragebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 ) als allgemein gültiges und einsehbares Verhalten auslegen. Die christliche Theologie sah darin seit Origenes den Inbegriff eines allgemein einsichtigen Naturrechts, durch das Gottes Wille allen Menschen von jeher bekannt sei.[3]

Ähnliche, negativ oder positiv formulierte Merksprüche oder Lehrsätze sind seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in religiösen und philosophischen Texten aus China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland überliefert.[4] Diese Texte entstanden teilweise zeitlich parallel und werden nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückgeführt. Wie das fortbestehende Vergeltungsprinzip (ius talionis) und das Tauschprinzip (do ut des) sind sie auf Wechselseitigkeit im Sozialverhalten bezogen und wenden sich an jedermann, setzen also ein Individualitäts- und Gattungsbewusstsein in nicht mehr überwiegend tribalistisch organisierten Gesellschaftsformen voraus. Seit außereuropäische Analogien in Europa bekannt wurden, bezog man den Ausdruck Goldene Regel auch darauf. Seitdem bezeichnet er einen angenommenen ethischen Minimalkonsens unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen und eine „unschätzbare Nützlichkeit“ als ethischer Wegweiser.[5]

Die Regel verlangt einen Perspektivenwechsel und macht das Sich-Hineinversetzen in die Lage Betroffener zum Kriterium für moralisches Handeln. Das gilt auf jeden Fall als Schritt zu ethischer Eigenverantwortung[6] mit der Kraft zur Selbstkorrektur: Missbräuchliche, wörtliche Anwendungen der Regel können wiederum mit ihr auf moralische Konsistenz befragt werden.[7] Da sie keine inhaltliche Norm für richtiges oder falsches Verhalten benennt, wurde sie historisch verschieden gedeutet: etwa als Appell an eigennützige Klugheit, die Vor- und Nachteile zu erwartender Reaktionen auf das eigene Handeln zu bedenken, oder als Forderung nach Fairness, die Interessen und Wünsche Anderer als gleichwertig mit den eigenen zu berücksichtigen, oder als Achtung der Menschenwürde Anderer, die allgemeingültige Maßstäbe für ethisches Handeln impliziert.[8] In der Philosophie der Neuzeit wurde sie oft als ethisch untaugliche Maxime verworfen oder auf verschiedene Weisen ergänzt und präzisiert. Die Anwendung der Kontraposition auf die Goldene Regel in ihren verschiedenen Formen führt zu fragwürdigen Umkehrschlüssen. Diese können Gleichgültigkeit, Bestrafung, Vergeltung, Auge um Auge und sogar Rache zu denken geben.

  1. Maximilian Forschner u. a.: Lexikon der Ethik. 7. Auflage. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-56810-7, S. 118.
  2. Georg Büchmann: Geflügelte Worte, 32. Auflage, Haude & Spener, Berlin 1972, S. 54f.; ähnlich bei K. F. W. Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Artikel „Wollen (Verb)“ bei Zeno.org. Wohl abgeleitet von den oben verlinkten Bibelstellen; erscheint bereits im mittelhochdeutschen Buch der Rügen (anonym, wohl 13. Jahrhundert) in der Form: swaz du niht wil daz dir geschiht / des entuo dem andern niht (Theodor von Karajan: buch der rügen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 2 (1842), S. 53, Digitalisat bei DigiZeitschriften). Die revidierte Fassung der Lutherbibel von 2017 übernimmt für die Übersetzung von Tobit 4,15 (nach anderer Zählung 4,16) die sprichwörtliche Form. In der Lutherbibel von 1545 heißt die Stelle: Was du wilt das man dir thue / das thu einem andern auch.
  3. Thomas Jackson: First Sermon upon Matthew 7,12 (1615; Werke Band 3, S. 612); Benjamin Camfield: The Comprehensive Rule of Righteousness (1671); George Boraston: The Royal Law, or the Golden Rule of Justice and Charity (1683); John Goodman: The Golden Rule, or, the Royal Law of Equity explained (1688; Titelseite als Faksimile in der Google-Buchsuche); dazu Olivier du Roy: The Golden Rule as the Law of Nature. In: Jacob Neusner, Bruce Chilton (Hrsg.): The Golden Rule – The Ethics of Reprocity in World Religions. London/New York 2008, S. 94.
  4. Leonidas Johannes Philippidis: Die ‚Goldene Regel‘, religionswissenschaftlich untersucht. Dissertation, Leipzig 1929.
  5. Oxford English Dictionary, Compact Edition, Vol. I, Oxford University Press, Oxford 1971, S. 280.
  6. Wilfried Härle: Goldene Regel. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 3, Mohr/Siebeck, 4. Auflage. Tübingen 2000, ISBN 3-16-146943-7, Sp. 1078.
  7. Jeffrey Wattles: The Golden Rule. 1996, S. 6.
  8. Bruno Schüller: Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie. Patmos Verlag, 3. Auflage. Düsseldorf 1993, ISBN 3-491-77551-5, S. 85–91.

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