Inertialsystem

Ein Bezugssystem in der Physik heißt Inertialsystem (von lateinisch inertia für „Trägheit“), wenn jeder kräftefreie Körper relativ zu diesem Bezugssystem in Ruhe verharrt oder sich gleichförmig (geradlinig und unbeschleunigt) bewegt. Kräftefrei bedeutet, dass der Körper keine Kräfte von anderen Objekten erfährt oder diese sich insgesamt aufheben, sodass die resultierende Kraft Null ist.

Falls sich ein Körper, obwohl er in diesem Sinn kräftefrei ist, relativ zu einem bestimmten Bezugssystem beschleunigt oder krummlinig bewegt, so werden die auftretenden Beschleunigungen mit Trägheitskräften erklärt. Diese rühren daher, dass das Bezugssystem gegenüber einem Inertialsystem in Rotation oder anderweitig beschleunigter Bewegung ist. Trägheitskräfte gehen nicht von anderen Körpern aus und werden bei der Beurteilung der Kräftefreiheit nicht mitgezählt. In einem Inertialsystem gibt es keine Trägheitskräfte.

Zum Beispiel ist wegen der Erdrotation ein mit der Erdoberfläche verbundenes Bezugssystem kein Inertialsystem. Die durch die Rotation verursachten Trägheitskräfte sind allerdings meist nicht zu bemerken, weshalb ein solches System praktisch in sehr guter Näherung als Inertialsystem zu betrachten ist. In einem wirklichen Inertialsystem würde sich der Fixstern­himmel nicht drehen.

Ein dreidimensionaler Raum, für den ein (streng oder angenähert gültiges) Inertialsystem reproduzierbar als Bezugssystem genutzt werden kann, wird in manchen Fachgebieten als Inertialraum bezeichnet.[1][2][3]

In den modernen Werken zur Theoretischen Mechanik wird das Inertialsystem oft allein mithilfe des Trägheitssatzes definiert, der dem ersten der drei Newtonschen Axiome entspricht.[4][5] Für eine vollständige Definition sind aber alle drei Newtonschen Axiome erforderlich:[6] Das erste nennt die geradlinig-gleichförmige Bewegung von kräftefreien Körpern als wesentliche Eigenschaft eines Inertialsystems. Das zweite definiert allgemein die Kräfte durch die von ihnen verursachten Beschleunigungen. Das dritte schließlich verlangt, dass es zu jeder Kraft eine Gegenkraft geben muss, sodass hier ausschließlich Kräfte gemeint sind, die auf Wechselwirkungen zwischen Körpern zurückgehen, was auf Trägheitskräfte gerade nicht zutrifft.

Der Begriff „Inertialsystem“ wurde erstmals 1885 von Ludwig Lange herausgearbeitet, der (nach Ernst Mach) den dabei benötigten Begriff des kräftefreien Körpers so präzisierte: Der kräftefreie Körper kann als von anderer Materie „unendlich“ weit entfernt gedacht werden. Gleichbedeutend sei (nach James Maxwell), den Trägheitssatz negativ auszudrücken: Immer, wenn ein in einem Inertialsystem beobachteter Körper sich nicht geradlinig-gleichförmig bewegt, ist das von Kräften verursacht, die von anderen Körpern ausgehen.[7](S. 271)

  1. Rudolf Brockhaus: Flugregelung. 2. Auflage. Springer 2001, ISBN 3-662-07265-3.
  2. Günter Seeber: Satellitengeodäsie: Grundlagen, Methoden und Anwendungen. De Gruyter, Berlin, 1989, ISBN 3-11-010082-7, S. 396.
  3. Manuela Seitz, Detlef Angermann, Mathis Bloßfeld: Geometrische Referenzsysteme. In: Erdmessung und Satellitengeodäsie. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-47099-2, S. 325–348, doi:10.1007/978-3-662-47100-5_17 (springer.com [abgerufen am 7. Juli 2020]).
  4. Fließbach: Lehrbuch zur Theoretischen Physik I – Mechanik. Springer, 7. Auflage, 2015, S. 9.: „Es gibt Bezugssysteme, in denen die kräftefreie Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit erfolgt. Dies sind Inertialsysteme.“
  5. Henz, Langhanke: Pfade durch die Theoretische Mechanik 1. Springer, 2016, S. 42. „Es gibt Koordinatensysteme, in denen sich jeder kräftefreie Massepunkt geradlinig gleichförmig bewegt oder ruht. Diese besonders wichtigen Koordinatensysteme werden Inertialsysteme genannt.“
    Beinahe gleichlautend auch bei Nolting: Grundkurs Theoretische Physik 1 – Klassische Mechanik. Springer, 10. Auflage, 2013, S. 173.
  6. Nayaran Rana, Pramod Joag: Classical Mechanics. 24. Auflage. Tata McGraw-Hill Education, New Delhi 2001, ISBN 0-07-460315-9, S. 9.
  7. Ludwig Lange: Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei’schen Beharrungsgesetzes. In: W. Wundt (Hrsg.): Philosophische Studien. Band 2, 1885, S. 266 ff. (online [abgerufen am 12. Juni 2017]).

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