Nationale Mythen der Schweiz

Die Landsgemeinde als Quelle der direktdemokratischen Tradition der Schweiz. Gemälde von Albert Welti und Wilhelm Balmer. (1907–12), Ständeratssaal des Bundeshauses in Bern (Ausschnitt).

Als nationaler Mythos (im Sinne einer «Erzählung mit einem kollektiven, sinn- und identitätsstiftenden Wirkungspotential») der Schweiz wird oft die «immerwährende Neutralität» (auch «immerwährende bewaffnete Neutralität») bezeichnet; daneben auch die «direkte Demokratie»,[1] die «humanitäre Tradition»,[2] das Schweizer Réduit und die Verteidigungsbereitschaft im Zweiten Weltkrieg, teilweise auch mundänere Institutionen wie der Schweizer Franken, das (ehemalige) Bankgeheimnis, die Bundesbahnen und die (ehemaligen Institutionen) Post und Swissair, die als Ausdruck «nationaler» Charakteristika wie Pünktlichkeit oder Stabilität verstanden werden.[3]

Als nationale Gründungsmythen gelten die historiographischen Legenden zu Entstehung und Wachstum der Alten Eidgenossenschaft im 14. Jh., ganz besonders die Legende von Rütlischwur und Wilhelm Tell. In den Bereich des «nationalen Mythos» gehört auch die Rolle der Alpen («Alpenmythos»)[4] und die Selbstwahrnehmung als «Bauernnation» bzw. als alpin geprägtes «Hirtenvolk».[5]

Im politischen Diskurs war der Begriff des «nationalen Mythos» im frühen 20. Jh. positiv besetzt, als zu pflegende Grundlage der staatlichen Identität;[6] Oft wurde betont, als «Willensnation» (im Gegensatz zu einem ethnisch homogenen Nationalstaat) sei die Schweiz noch mehr als andere Staaten auf die einigende Wirkung nationaler Mythen angewiesen.[7] Seit den 1960er Jahren wurde der Begriff dagegen meist kritisch oder abwertend verwendet, für Irrtümer aus dem Reich der «Mythen und Legenden», die es zu dekonstruieren gelte.[8] Damit ist der Begriff des «Mythos» heute politisch aufgeladen; wer etwas als «Mythos» bezeichnet, will es damit als unrealisierbar oder als Fiktion entlarven.[9]

  1. z. B. Eszter Pabis: Die Schweiz als Erzählung: nationale und narrative Identitätskonstruktionen in Max Frischs Stiller, Wilhelm Tell für die Schule und Dienstbüchlein, Peter Lang (2010), S. 171.
  2. «Doch der Begriff [‹humanitäre Tradition›] ist eher ein Mythos als eine historische Realität.» Die Renaissance der humanitären Tradition, Swissinfo, 26. August 2006. Balz Spörri: Grosszügig zu sich selbst. Mythos humanitäre Tradition: Von den Flüchtlingen wollte die Schweiz vor allem profitieren. In: Sonntagszeitung, 7. August 2006.
  3. Schweizer Franken: Jakob Tanner: Goldparität im Gotthardstaat: Nationale Mythen und die Stabilität des Schweizer Frankens in den 1930er und 40er Jahren. In: Studien und Quellen 26 (2000), 45–81. Bankgeheimnis: Daniel Woker: Terminologie und Wirklichkeit. Mythen und ihre Berechtigung, Journal21, 10. Februar 2015.
  4. R. Bernhard: Der Alpenmythos der Schweiz gestern, heute und morgen. Neue Helvetische Gesellschaft (2011)
  5. «Der Mythos vom alteidg. Freiheitskampf nahm einen wichtigen Platz ein und wurde zum Sockel eines hist. Nationalverständnisses, d. h. einer durch den Gang der Geschichte geprägten Idee der Schweiz. Aus dieser Zeit stammt die vom habsburg. Adel negativ gemeinte und vom eidg. Bund positiv umgedeutete und auch vom Stadtbürgertum beanspruchte Bezeichnung der Bauernnation (Hirtenvolk).» Georg Kreis: Nation. In: Historisches Lexikon der Schweiz. J. Jetzer: Die Entstehung des Alpenmythos. (Memento vom 21. April 2016 im Internet Archive) In: NZZ, 11. März 2006.
  6. Kann ein Volk auf den nationalen Mythos verzichten?, Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg, Sammelschrift, Zürich 1915 (Richard Fritz Walter Behrendt: Die Schweiz und der Imperialismus: die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalismus, 1932, S. 145). Wilhelm Tell (bzw. die Bearbeitung des Tell-Stoffes für die Bühne) als «nationaler Mythos»: Das Schweizer Drama, 1914–1944, Jahrbuch der Gesellschaft für Schweizerische Theaterkultur (1944), S. 88.
  7. Der Staats- und Völkerrechtler Carl Hilty formulierte das neue Credo in einer Schrift von 1875 so: «Wir haben einen starken Willen, eine Nation zu sein.» Der Rechtswissenschaftler Johann Caspar Bluntschli, der in Heidelberg lehrte, forderte gleichzeitig, die Schweiz müsse sich eine Erklärung ihrer selbst geben, sonst sei sie gefährdet. Damit entstand ein Paradox: Um eine Nation zu sein, gelangte man zu einer Definition, die nicht dem damaligen Nationalitätenprinzip entsprach. Bundesrat Jakob Stämpfli hielt schon in den 1860er-Jahren fest: «Würde das Prinzip der Nationalität anerkannt, so wäre damit die Existenz der Schweiz vernichtet.» Hier äussern sich auch Bedrohungsgefühle. Die Schweiz konterte mit einer Doppelstrategie: zum einen mit der selbstbewussten Aufwertung von Geschichtsbildern, zum andern mit einer raschen Entwicklung der Wirtschaft. Jakob Tanner: Die Schweiz ist eine gespaltene Nation. In: Magazin 3/11 (2011), S. 38.
  8. Lob des Willens zu Distanz zu «heuchlerischen Alpenkranzromantik und heroischem Patriotismus und unechtem bundesfeierlichem Pathos» der Gestalter des Wegs der Schweiz. – Heinz Ochsenbein, Peter Stähli: Weg der Schweiz. Expo 1964. Haupt, Bern 1969, S. 18 (= Schweizer Heimatbücher, 127–129). Die Schweizer Neutralität als «nationaler Mythos»: François Da Pozzo: Elemente des politischen Systems der Schweiz im Spiegel der internationalen Politologie. Francke, Bern 1977, S. 134. Ein «Mythos» um die Schlacht bei Sempach: Heinrich Thommen: Die Schlacht von Sempach im Bild der Nachwelt. Lehrmittelverlag, Luzern 1986, ISBN 3-271-00009-3.
  9. «Wer das Réduit oder gar die direkte Demokratie als Mythos bezeichnet, will diese Grössen als Fiktionen entlarven und deutlich machen, dass sie gar nicht realisierbar waren oder sind.» P. Rusterholz und E. Facon in: Schweizer Eigenart, eigenartige Schweiz: der Kleinstaat im Kräftefeld der europäischen Integration. 1996, S. 293. «Die Kluft, der Spagat, zwischen den institutionellen Regelungen und den faktischen Beziehungen wird von nationalen Mythen wie Neutralität, Unabhängigkeit, Souveränität, usw. überdeckt.» E. Schmid in: Eine Verfassung für die Europäische Union: Beiträge zu einer grundsätzlichen und aktuellen Diskussion, Springer-Verlag (2013), S. 368.

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