Rechtsethnologie

Die Rechtsethnologie (siehe auch Rechtssoziologie) kann als Wissenschaft betrachtet werden, die sich mit „Werden, Wandel und Gestaltung des Rechtes“ beschäftigt (Thurnwald 1934).

Richard Thurnwald gilt als Begründer der Rechtsethnologie, da er als erster Ethnologe ethnographische Feldforschungen betrieben hat und dabei das Recht als eine „Funktion der Lebensbedingungen und der gesamten Kultur eines Volkes“ gesehen hat. Die Vorläufer, insbesondere Henry Sumner Maine (Ancient Law, 1861), der als Begründer der vergleichenden Rechtswissenschaft gilt, und Johann Jakob Bachofen (Das Mutterrecht, 1861), untersuchten als gelernte Juristen und mit rechtswissenschaftlichen Methoden das Recht anderer Völker.

Da Recht immer Teil kultureller Vorstellungen ist, welche die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen organisieren und legitimieren, muss die Analyse von Recht den kulturellen Kontext berücksichtigen und kann nicht losgelöst von anderen Teilbereichen der Ethnologie behandelt werden. Gleichzeitig weist die Rechtsethnologie Überschneidungen mit ihren Nachbardisziplinen auf, allen voran der Rechtswissenschaft, aber auch der Sozialwissenschaft und der Politikwissenschaft, wobei die Auffassung über theoretische, methodologische und pragmatisch-politische Fragestellungen jedoch variiert.

Als Spezialgebiet der Ethnologie beschäftigt sich die Rechtsethnologie primär mit den Rechten außereuropäischer Gesellschaften, den sogenannten "indigenen" oder "schriftlosen" Gesellschaften, wobei die Grenze zunehmend an Unschärfe gewinnt und Überschneidungen mit den oben genannten Disziplinen zunehmen.

Einen „analytischen Schub“ erlangte die Untersuchung des Rechts mit der Erkenntnis, dass der Staat nicht die einzige Quelle obligatorischer Normen darstellt, sondern mit einer Reihe anderer Legitimationsgrundlagen der Rechtschaffung und der sozialen Kontrolle koexistiert. Diese „Vielheit von Recht“ ist jedoch keineswegs eine Besonderheit ehemaliger Kolonien und Entwicklungsländer, sondern besteht auch in Industriestaaten im Rahmen der Rechte von Ausländern und in Zusammenhang von Regeln und Sanktionsmechanismen innerhalb von Verbänden oder „semi-autonomen Feldern“ (Moore 1978). Rechtspluralismus wurde infolgedessen zu einem Schlüsselbegriff moderner Rechtsuntersuchungen.

Die „Entdeckung des Staates“ führte zudem zu einer Neubewertung der historischen Dimension und verdeutlichte, dass der Staat bei der Erforschung traditionellen Rechts bisher weitgehend übersehen worden ist. Die erforschten Gewohnheitsrechte, die zu weiten Teilen Produkt staatlichen und kolonialen Wirkens sind, können deshalb nicht als „ursprüngliche“, vorkoloniale lokale Rechte gelten, sondern stehen in einer engen Wechselwirkung zu dem Einfluss des Staates.


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