Verschwindenlassen

Raoul Wallenberg, ein schwedischer Diplomat in Budapest, der in der Endphase des Zweiten Weltkriegs tausende ungarischer Juden vor der Ermordung im Holocaust bewahrt hatte, wurde Anfang 1945 von Angehörigen der Roten Armee und des NKWD in die Sowjetunion verschleppt, die seine Entführung lange abstritt. Weder die Gründe seiner Verhaftung und sein Verbleib, noch Umstände und Zeitpunkt seines Todes sind bis heute geklärt.
Der deutsch-argentinische Student Klaus Zieschank wurde im März 1976 unter der argentinischen Militärdiktatur von Militärangehörigen entführt, die anonym blieben. Etwa zwei Monate später fand man seinen Leichnam an einem Flussufer. Er wurde jedoch zunächst anonym bestattet und erst 1985 identifiziert. Sein Schicksal ähnelt dem zehntausender Verschwundener (Desaparecidos) im Südamerika der 1970er- und 1980er-Jahre.

Erzwingung des spurlosen Verschwindens von Menschen, auch Verschwindenmachen, Verschwindenlassen oder Erzwungenes Verschwinden genannt (span. desaparición forzada, engl. forced disappearance), ist ein Instrument der Willkürherrschaft, mit dem staatliche oder quasi-staatliche Organe Menschen in ihre Gewalt bringen und dem Schutz des Gesetzes längere Zeit entziehen, dies aber gegenüber der Öffentlichkeit leugnen. Es dient in der Regel der Unterdrückung politischer Gegner sowie anderer missliebiger Personen und gilt als eine der schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen.[1] und .

Das 2002 in Kraft getretenen Rom-Statut definiert das Verschwindenlassen wie folgt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit:

„Zwangsweises Verschwindenlassen von Personen bedeutet die Festnahme, den Entzug der Freiheit oder die Entführung von Personen; durchgeführt, unterstützt oder gebilligt durch einen Staat oder eine politische Organisation, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen, in der Absicht, sie für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen.“

Die Definition bildet eine der völkerrechtlichen Normen für die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Die Opfer werden meist durch anonyme Mitglieder von Sicherheitskräften verhaftet oder entführt und an einem geheim gehaltenen Ort festgehalten. Angehörige und Öffentlichkeit erfahren auch auf ausdrückliche Nachfrage oder gerichtliche Anordnung nichts über ihren Verbleib. In vielen Fällen werden sie auch gefoltert und nach einiger Zeit ohne gerichtliches Verfahren umgebracht. Auch die Leichen werden beseitigt. Da die Ermordung in der Regel streng geheim gehalten wird und staatliche Behörden jegliche Beteiligung strikt abstreiten, verbleiben Angehörige und Freunde oft jahrelang in einem verzweifelten Zustand zwischen Hoffnung und Resignation.

Als systematisches Mittel staatlichen Terrors wurde das Verschwindenlassen im großen Stil erstmals von der Tscheka, dem Geheimdienst der neu gegründeten Sowjetunion, angewendet. Im Lagersystem des Gulag wurden insbesondere zur Zeit Stalins Millionen von Menschen inhaftiert, von denen viele spurlos verschwanden. Während des Zweiten Weltkriegs ließ das sowjetische NKWD insgeheim Tausende polnischer Offiziere ermorden. Das Massaker von Katyn wurde von der UdSSR jahrzehntelang geleugnet. Nach dem Krieg dehnte die Sowjetunion die Praxis des Verschwindenlassens auf die von ihr kontrollierten Staaten aus. Ein besonders bekanntes Beispiel aus den 1970er- und 1980er-Jahren ist das Schicksal mehrerer hunderttausend so genannter Desaparecidos (dt. Verschwundene) im Lateinamerika, die Opfer von rechtsgerichteter Militärdiktaturen wurden. In neuerer Zeit wurden die USA für ihre Vorgehensweise im „Krieg gegen den Terror“ kritisiert, bei der Terrorverdächtige entführt (Extraordinary rendition) und ohne Gerichtsverfahren in Geheimgefängnissen (Black sites) gefangen gehalten wurden.

Amnesty International hat festgestellt, dass dies auch von einer Vielzahl weiterer Länder praktiziert wird, und zwar teilweise, um etwa politisch missliebige Personen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung grundlos festzuhalten oder sogar zu töten.[2] Der Schutz von gewaltsam „Verschwundenen“ ist eines der zentralen Tätigkeitsgebiete von Amnesty International. So werden Mitglieder in Form von Kampagnen aufgefordert, Briefe oder E-Mails an Regierungsmitglieder des Täterlandes zu schreiben, um öffentliche Aufmerksamkeit auf die Opfer zu lenken und sie dadurch zu schützen.

  1. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Linzer.
  2. amnesty international: Niemand darf „verschwinden“! Archiviert vom Original am 28. März 2009; abgerufen am 23. Oktober 2008.

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