Hijra

Die Hindu-Gottheit Shiva in zweigeschlechtlicher Gestalt als Ardhanarishvara

Hijra oder Hidschra ist in Südasien eine Bezeichnung für trans- oder intergeschlechtliche Personen in Indien, Pakistan und Bangladesch, von denen einige aus eigener Entscheidung Eunuchen sind.[1][2][3][4][5] Hijras sind in mehreren südasiatischen Ländern offiziell anerkannt als drittes Geschlecht und werden dort als weder vollständig männlich noch weiblich angesehen.[2][6][7][8]

Der Ausdruck „hijra“ ist ein Hindi-Urdu-Wort,[9][10][11] abgeleitet von der semitisch-arabischen Wurzel hjr* in der Bedeutung „mit etwas brechen, verlassen, im Stich lassen, verstoßen, auswandern, fliehen“.[12] Die indische Verwendung des Wortes hijra wurde traditionell ins Englische übersetzt als eunuch (Eunuch) oder hermaphrodite (Hermaphrodit), wobei „die Unregelmäßigkeit der männlichen Genitalien im Mittelpunkt der Definition steht.“[13]

Hijra sind auch bekannt als Aravani, Aruvani oder Jagappa.[14] In vielen Sprachen Indiens, besonders außerhalb von Nordwestindien, werden andere Begriffe wie „chhakka“ verwendet.[15] Hijras sind seit dem Altertum auf dem indischen Subkontinent historisch belegt, beispielsweise im Kamasutra (ab 200 n. Chr.).

Viele Hijras leben in genau definierten und organisierten Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften, angeführt von einer Guru-Mutter. Die wichtigste Beziehung in der Hijra-Gemeinschaft ist die von Guru (Meisterin, Lehrerin) und Chela (Schülerin).[16][17] Eine Guru-Mutter muss für die materiellen und spirituellen Bedürfnisse ihrer Schülerinnen Sorge tragen und hat dafür ein Anrecht auf Loyalität und einen Teil ihrer Einnahmen.[18][19]

Diese Gemeinschaften haben sich über Generationen hinweg erhalten durch die „Adoption“ von biologisch männlichen Jugendlichen oder Kindern, die von ihrer Herkunftsfamilie und anderen Personen wegen ihres femininen Verhaltens abgelehnt wurden und zu den Hijras fliehen, um ihre weibliche Geschlechtsidentität voll leben zu können, oder die in bitterster Armut leben, manchmal nach einer Periode homosexueller Prostitution.[20] Um zu überleben, arbeiten viele Hijra als Sexarbeiter.[21]

Nur wenige Hijras sind jedoch von Geburt an intergeschlechtlich.[22] Die meisten sind physisch männlich geboren, viele haben jedoch eine weibliche Geschlechtsidentität im Sinne der Transgeschlechtlichkeit. Nicht selten unterziehen sie sich einer Nirwaan genannten Totalkastration,[21] oft schon in jugendlichem Alter, um eine weitere Vermännlichung ihres Körpers zu verhindern. Sie leben als Frauen und manche Hijras erlangen durch einen solchen Eingriff eine deutliche Verweiblichung.[23]

Sprachlich bezeichnen sich Hijras selbst meist als weiblich, als transgender und kleiden sich dementsprechend.[24] Von der konservativen Außenwelt werden sie dennoch häufig als Eunuchen oder als „kastrierte Männer“ bezeichnet.

Seit dem späten 20. Jahrhundert haben einige Hijra-Aktivisten und westliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Lobbyarbeit geleistet für die offizielle Anerkennung der Hijra als drittes Geschlecht oder dritte Geschlechtsidentität, als weder Mann noch Frau.[25]

In Indien wurden die Hijras 2009 als drittes Geschlecht anerkannt,[26] 2011 auch in Pakistan, dort regional als Khusra bezeichnet.[27] Damit waren die Hijras zu diesem Zeitpunkt weltweit das einzige offiziell anerkannte dritte Geschlecht.[28] In Bangladesch bekamen Hijras die Anerkennung 2013 zugestanden und genießen seitdem eine Bevorzugung in der Ausbildung.[29][30][31] In Indien wurden alle Hijra sowie Transmenschen, Eunuchen und Intergeschlechtliche vom Obersten Gerichtshof im April 2014 als drittes Geschlecht anerkannt.[1][32][33] Nepal erkannte 2015 die rechtliche Existenz eines dritten Geschlechts an und ermöglicht – wie Indien auch – einen entsprechenden Geschlechtseintrag in offiziellen Dokumente; dort gibt es neben einigen Hijras auch Meti und Kothi (siehe auch Divers sowie Länder mit einem dritten Geschlechtseintrag).[34]

  1. a b Meldung (APA): India recognises transgender people as third gender. In: The Guardian. 15. April 2014, abgerufen am 22. Januar 2020 (englisch).
  2. a b Susan M. Shaw, Nancy Staton Barbour u. a. (Hrsg.): Women’s Lives around the World: A Global Encyclopedia. Band 3: Asia and the Pacific. Abc-Clio, Santa Barbara (Cal.) 2018, ISBN 978-1-4408-4766-0, S. 87 (englisch; Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
  3. Thomas Köllen: Sexual Orientation and Transgender Issues in Organizations: Global Perspectives on LGBT Workforce Diversity. Springer, 2016, S. 171.
  4. Lynelle Seow: CultureShock! India. Marshall Cavendish International Asia, 2017, S. 132 (auf google-books).
  5. Misty M. Ginicola, Cheri Smith, Joel M. Filmore: Affirmative Counseling with LGBTQI+ People. Wiley & Sons, 2017, S. 189 (auf google-books).
  6. Dana Jennett Bevan, Dallas Denny: Being Transgender. What You Should Know. ABC-CLIO, Santa Barbara (Cal.) 2016, ISBN 978-1-4408-4525-3, S. 70 (auf google-books) .
  7. 7 Countries Giving Transgender People Fundamental Rights the U. S. Still Won’t. In: mic.com. Abgerufen am 17. Juni 2016. Vorlage:Cite web: Der Parameter language wurde bei wahrscheinlich fremdsprachiger Quelle nicht angegeben.
  8. Adil Mahmood: Hijras and Bangladesh: The creation of a third gender. (Memento vom 5. Juli 2016 im Internet Archive) In: Pandeia.eu. 2. Dezember 2013, abgerufen am 22. Januar 2020 (englisch).
  9. Gayatri Reddy: With Respect to Sex: Negotiating Hijra Identity in South India. University of Chicago Press, 2010, ISBN 978-0-226-70754-9, S. 243 (englisch): “By and large, the Hindi/Urdu term hijra is used more often in the north of the country, whereas the Telugu term kojja is more specific to the state of Andhra Pradesh, of which Hyderabad is the capital.”
  10. Anitha Chettiar: Problems Faced by Hijras (Male to Female Transgenders) in Mumbai with Reference to Their Health and Harassment by the Police. In: International Journal of Social Science and Humanity. Band 5. Jahrgang, Nr. 9, 2015: „The Urdu and Hindi word "hijra" may alternately be romanised as hijira, hijda, hijada, hijara, hijrah and is pronounced "heejra" or "heejda".“ Vorlage:Cite journal: Der Parameter language wurde bei wahrscheinlich fremdsprachiger Quelle nicht angegeben.
  11. Hindi: हिजड़ा, Urdu: ہِجڑا, Bengali: হিজড়া, Kannada: ಹಿಜಡಾ, Telugu: హిజ్ర, Punjabi: ਹਿਜੜਾ, Odia: ହିନ୍ଜଡା. Auch bekannt als chhakka (Kannada, Bambaiya Hindi), ਖੁਸਰਾ khusra (Punjabi), kojja (Telugu) und ombodhu (Madras Tamil).
  12. hjr (main meanings): a) to break with, leave, forsake, renounce, emigrate, flee". Lahzar Zanned: Root formation and polysemic organization. In: Mohammad T. Alhawary, Elabbas Benmamoun (Hrsg.): Perspectives on Arabic linguistics XVII-XVIII: papers from the Seventeenth and Eighteenth Annual Symposia on Arabic Linguistics. John Benjamins, 2005, S. 97.
  13. Serena Nanda: Neither Man nor Woman - The Hijras of India. Belmont (CA) 1998, S. ??.
  14. Preeti Sharma: Historical Background and Legal Status of Third Gender in Indian Society. 2012 (Volltext als PDF). Archiviert von dieser Version am 3. Februar 2014.
  15. Amiteshwar Ratra: Marriage and Family: In Diverse and Changing Scenario. Deep and Deep Publications, 2006, S. 61 (auf google-books).
  16. "The most significant relationship in the hijra community is that of the guru (master, teacher) and chela (disciple)." Serena Nanda: The hijras of India: Cultural and Individual Dimensions of an Institutionalized Third Gender Role. In: Journal of Homosexuality. Band 11, 1986, S. 35–54.
  17. "Hijras are organized into households with a hijra guru as head, into territories delimiting where each household can dance and demand money from merchants". L Cohen: The Pleasures of Castration: the postoperative status of hijras, jankhas and academics. In Paul R. Abramson, Steven D. Pinkerton (Hrsg.): Sexual Nature, Sexual Culture. University of Chicago Press, Chicago 1995 (auf google-books).
  18. Eva Fels, Traude Pillai-Vetschera: Hidschras - das dritte Geschlecht Indiens. In: FrauenSolidarität. Heft Nr. 78 (4/2001), S. 18 f.
  19. Between the Lines - Indiens drittes Geschlecht zwischen Mystik, Spiritualität und Prostitution. Film der Fotografin Anita Khemka.
  20. "None of the hijra narratives I recorded supports the widespread belief in India that hijras recruit their membership by making successful claims on intersex infants. Instead, it appears that most hijras join the community in their youth, either out of a desire to more fully express their feminine gender identity, under the pressure of poverty, because of ill treatment by parents and peers for feminine behaviour, after a period of homosexual prostitution, or for a combination of these reasons." R. B. Towle, L. M. Morgan: Romancing the Transgender Native: Rethinking the Use of the 'Third Gender' Concept. In: S. Stryker, S. Whittle (eds): Transgender Studies Reader. Routledge, 2006, S. 116.
  21. a b Serena Nanda: Hijras: An Alternative Sex and Gender Role in India. In: G. Herdt: Third Sex, Third Gender: Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History. Zone Books, 1996, S. ?? (englisch).
  22. Serena Nanda: Deviant careers - the 'hijras' of India. Kapitel 7 In: Morris Freilich, Douglas Raybeck, Joel S. Savishinsky (Hrsg.): Deviance: anthropological perspectives. Greenwood Publishing, 1991, S. ?? (englisch); Zitat: „Among thirty of my informants, only one appeared to have been born intersexed.“ Übersetzt: „Von 30 meiner Informanten schien nur eine intersexuell geboren zu sein.“
  23. Lynn Conway: Geschichte und Nachweis der Transsexualität in verschiedenen Kulturen. In: umich.edu. 2006, abgerufen am 22. Januar 2020 (übersetzt von Vivian Silver; Transsexualität bei antiken Priesterinnen und indischen Hidschras).
  24. Programmankündigung: The Hijras of India: The story of those who describe themselves as “transgender”. In: News.BBC.co.uk. 22. Februar 2007, abgerufen am 22. Januar 2020.
  25. Anuja Agrawal: Gendered Bodies: The Case of the 'Third Gender' in India. In: Contributions to Indian Sociology. 31. Jahrgang, 1997, S. 273–97, doi:10.1177/006996697031002005. Vorlage:Cite journal: Der Parameter language wurde bei wahrscheinlich fremdsprachiger Quelle nicht angegeben.
  26. Meldung: Indian eunuchs given separate IDs. Auf: News.BBC.co.uk. 13. November 2009, abgerufen am 22. Januar 2020 (englisch).
  27. Jürgen Wasim Frembgen: Das dritte Geschlecht in Pakistan: Tänzer, Sänger und Performer. In: Goethe-Institut (Hrsg.): Fikrun wa Fann. Januar 2011 (übersetzt von Simone Falk: online auf goethe.de).
  28. Madeleine Eisfeld: Rechte statt Romantik: Indien und Pakistan erkennen ein Drittes Geschlecht an. In: iz3w. Nr. 326, September/ Oktober 2011, S. 29.
  29. DNA: Gurus of eunuchs can not recommend castration: Govt. Auf: dnaindia.com Version vom 9. März 2012; zuletzt abgerufen am 3. April 2021.
  30. Mohosinul Karim: Hijras now a separate gender. In: Dhaka Tribune. 11. November 2013, archiviert vom Original am 11. November 2013; abgerufen am 11. November 2013.
  31. Meldung: Bangladesh government makes Hijra an official gender option. In: Wikinews. 11. November 2013, abgerufen am 22. Januar 2020 (englisch).
  32. Terrence McCoy: India now recognizes transgender citizens as 'third gender'. In: Washington Post. 15. April 2014 (Online [abgerufen am 15. April 2014]).
  33. Supreme Court recognizes transgenders as 'third gender'. In: Times of India. 15. April 2014 (Online [abgerufen am 15. April 2014]).
  34. Julfikar Ali Manik, Ellen Barry: A Transgender Bangladeshi Changes Perceptions After Catching Murder Suspects. In: The New York Times. 3. April 2015 (englisch).

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