Kanon der Literatur

Ein Kanon der Literatur (zu griechisch kanon „Regel, Maßstab, Richtschnur“) ist eine Zusammenstellung derjenigen Werke, denen in der Literatur ein herausgehobener Wert beziehungsweise eine wesentliche, normsetzende und zeitüberdauernde Stellung zugeschrieben wird.[1]

Mit dem Begriff des literarischen Kanons wird dabei normalerweise ein ideelles Korpus aus literarischen Texten bezeichnet, die eine bestimmte Trägergruppe, beispielsweise eine gesamte sprachliche oder nationale Kultur oder eine subkulturelle Gruppierung, für wertvoll beziehungsweise autorisiert hält und an deren Überlieferung sie interessiert ist („materialer Kanon“).

Daneben bezeichnet dieser Terminus aber auch ein Korpus von Interpretationen, in dem festgelegt wird, welche sozialen Normen, Wertevorstellungen oder Deutungen mit den kanonisierten Texten verbunden sind („Deutungskanon“).[2]

Lange bevor das Konzept auf die Literatur angewendet wurde, hatte das mittelalterliche Christentum das Wort auf die Auswahl der anerkannten heiligen Schriften (Bibelkanon) und der autoritativen theologischen Schriften (z. B. Decretum Gelasii de libris recipiendis et non recipiendis, Liber pancrisis) bezogen.[2][3][4]

Bedeutung hat ein Kanon der Literatur vor allem im Schulunterricht und in den Philologien als Prüfungsgrundlage – er notiert hier die Titel, deren Kenntnis vorausgesetzt wird. Auf dem Buchmarkt und in Diskussionen der Allgemeinbildung ist er als Feld der Titel von Interesse, deren Lektüre die Teilnahme an Diskussionen erleichtert. Die Zusammenstellung eines solchen Kanons ist fach-, orts- und bildungsabhängig, genauso wie die Frage, was Kenntnis dieses Kanons genau bedeuten soll.

Ein Kanon der Literatur entsteht grundsätzlich nicht dadurch, dass sich Texte aufgrund inhärenter zeitloser literarischer Eigenschaften oder Qualitäten durchsetzen, sondern ist vielmehr das geschichtlich und kulturell determinierte, variable Resultat komplexer Auswahl- und Deutungsprozesse, die sowohl durch innerliterarische wie auch außerliterarische (zum Beispiel soziale oder politische) Faktoren bestimmt werden.

Die Festlegung eines solchen Kanons erfüllt dabei verschiedene Funktionen für die jeweilige Trägergruppe: Sie stiftet Identität durch die Repräsentation der für diese Gruppe konstitutiven Normen und Werte; sie grenzt zugleich diese Gruppe gegen andere ab und legitimiert sie. Ebenso liefert der festgelegte Kanon Handlungsorientierungen, indem er ästhetische und moralische Werte wie auch Verhaltensregeln kodiert. Auf diese Weise wird ebenso die Verständigung über gemeinsame Gegenstände in der Trägergruppe gesichert. Je homogener eine Gesellschaft oder kulturelle Gruppe ist, desto wahrscheinlicher wird eine Kanonisierung bestimmter Texte.

Typisch für moderne, zunehmend differenzierte Gesellschaften oder Kulturen ist jedoch die Kanonpluralität: Unterschiedliche Kanones stehen dabei neben- und gegeneinander und erfüllen die Selbstdarstellungs- und Legitimationsbedürfnisse der verschiedenen Trägergruppen.[2]

  1. Heike Gfrereis (Hrsg.): Kanon. In: Heike Gfrereis (Hrsg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Metzler Verlag, Stuttgart / Weimar 1999, ISBN 978-3-476-10320-8, S. 97.
  2. a b c Simone Winko: Kanon, literarischer. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie. Metzler Verlag, Stuttgart / Weimar, ISBN 3-476-10347-1, S. 114.
  3. Ulrich Horst: Das Wesen der "auctoritas" nach Thomas von Aquin. In: Münchener Theologische Zeitschrift, Band 13, Nummer 3. 30. September 1962, S. 156f, abgerufen am 2. August 2023.
  4. Odon Lottin: Un nouveau témoin du "Liber pancrisis". In: Recherches de théologie ancienne et médiévale. Band 23, Januar 1956, S. 164, JSTOR:26186345.

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