Proteste im Iran seit September 2022

Proteste im Iran seit September 2022
Teil von: iranischen Protesten 2021–2022 / iranischer Demokratiebewegung / Protesten gegen den gesetzlich vorgeschriebenen Hidschab

Protest an der Amirkabir-Universität für Technologie am 20. September 2022
Datum ab 16. September 2022
Ort Iran Iran
Ursache • Tod von Jina Mahsa Amini
Gewalt gegen Frauen durch die Sittenpolizei
• Gewaltsame Niederschlagung vorheriger iranischer Demokratiebewegungen (2009, 2017/18 und 2019/20)
Tötung politischer Gefangener
Straffreiheit von begangenen Verbrechen durch iranische „Sicherheitskräfte“
soziale Ungleichheit[1]
Ziele • Aufhebung des Kopftuchpflichtgesetzes von 1979
• Durchsetzung der Strafverfolgung gegen Polizeibeamte
• Auflösung der Sittenpolizei
• Sturz der Islamischen Republik Iran
• Herstellung einer liberalen Demokratie und Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte
• Erneute Umwandlung des Irans in einen säkularen Staat
• Gleichberechtigung
Methoden Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, Straßenkampf, Randale/Vandalismus, Revolte, Interviews, Berichterstattung u. a.
Konfliktparteien
  • Regierungskritiker bzw. Oppositionelle
  • Studenten und Schüler
  • Iranische Frauen
Mindestens 537 getötete Demonstranten (laut Iran Human Rights, Stand: 4. April 2023)[2]

517 Tote, darunter 70 Minderjährige und 68 „Sicherheitskräfte“ (laut Human Rights Activists News Agency, Stand: 6. Januar 2023)[3]

mindestens 300 Tote (einschließlich staatliche „Sicherheitskräfte“) (laut Revolutionsgarden, Stand: 28. November 2022)[4]
mehr als 300 Tote (einschließlich staatliche „Sicherheitskräfte“) (laut Vereinter Nationen, Stand: 3. Dezember 2022)[5]

898 verletzte Demonstranten (Stand: 26. September 2022)[6]

143 vollstreckte Todesstrafen gegen Demonstranten (Stand: 20. März 2023)[7]

19.262 Festnahmen in mehr als 130 iranischen Städten (laut Human Rights Activists News Agency, Stand: 6. Januar 2023)[8][9]

Die Proteste im Iran seit 2022 sind landesweite Proteste gegen die autoritäre Regierung des Staates. Hervorgerufen wurden sie von dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod der kurdischstämmigen Iranerin Jina Mahsa Amini in Teheran am 16. September 2022. Sie war von der islamischen Sittenpolizei festgenommen und misshandelt worden, weil ihr Kopftuch angeblich nicht richtig gesessen hatte.

Die Proteste richten sich sowohl gegen das theokratische Regime des Iran und seine Unterstützer, die Mullahs und Pasdaran[10], als auch gegen die von ihm diktierten Lebensbedingungen, insbesondere gegen die Auslegung der islamischen Kleiderordnung.[11] Frauen, die im Iran den Hidschab nicht oder falsch tragen, werden auf staatliche Anordnung hin Dienstleistungen (bspw. bei Banken, Fluggesellschaften, Ämtern und Krankenhäusern) verweigert bzw. vorenthalten. Der wiederholte Verstoß gegen die Kleiderordnung kann auch den Entzug des Führerscheins und den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben.[12] Als Zeichen der Solidarität mit Amini und aus Protest gegen die rechtliche Stellung der Frau im Iran verstießen manche Demonstrantinnen absichtlich gegen die Kleiderordnung, indem sie ihre Kopftücher abnahmen, diese verbrannten oder sich öffentlich die Haare schnitten.[11][13] An den Protesten nehmen laut Augenzeugenberichten auch Frauen teil, die zwar aus religiöser Überzeugung einen Hidschab tragen, aber das Regime ablehnen.[14] Die mit der Wirtschaftskrise der vorigen Jahre einhergegangene Verarmung der Mittelschicht trug dazu bei, dass die Proteste gegen die Staatsführung in weiten Teilen der Bevölkerung Unterstützung fand.[15][16] Zudem prägten die Proteste von 2017 bis 2019 eine neue Generation von Demonstranten.[17] So zeigten sich Händler, Fernfahrer sowie Arbeitnehmer aus der Automobilwirtschaft und dem für den Iran wichtigen Öl- und Gassektor mit den Demonstrationen in den Städten durch vereinzelte Streiks und Proteste solidarisch.[18][19]

Im Verlauf der Proteste wurden mehrere Hundert Menschen getötet, darunter auch viele Minderjährige.[20][21] Zudem wurden mehr als 15.000 Menschen festgenommen. Viele der festgenommenen Demonstranten erleiden Misshandlungen und Folter in Haft, mehrere sind bereits an den Folgen gestorben.[22][23][24][18] Vor allem Frauen werden in den Gefängnissen systematisch vergewaltigt.[25][18] Auch viele Kinder und Jugendliche werden vergewaltigt und auf andere Weisen gefoltert.[26] Am 6. November forderte das Parlament die Anwendung der Todesstrafe gegen die Demonstranten. Am 13. November wurde erstmals im Zusammenhang mit den Protesten ein Todesurteil gefällt,[27] das im darauffolgenden Monat vollstreckt wurde.[28] Mitte März 2023 wurden 143 Menschen hingerichtet.[7] Hunderte weitere wurden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt.[29]

Verhältnismäßig viele Proteste fanden in den iranischen Kurdengebieten im Westen und Nordwesten des Landes statt.[30][31] Eine weitere Hochburg waren die Belutschengebiete im Südosten. Anfangs wurde zudem insbesondere an den Universitäten protestiert. Die iranischen Behörden sagten daraufhin in vielen Städten Vorlesungen ab.[32] Außerdem wurde das Internet im Iran kurz nach dem Beginn der Proteste einer noch strengeren Zensur unterworfen als zuvor.[33] In manchen Städten weiteten sich die Proteste zu Revolten aus. So erschossen Regimekräfte laut der Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights und anderen am 30. September beim Massaker von Zahedan mindestens 93 Menschen bei Protesten gegen Jina Mahsa Aminis Tötung und gegen die Vergewaltigung eines 15-jährigen belutschischen Mädchens durch einen Polizeioffizier.[34][35][36][37]

Hatte der iranische Generalstaatsanwalt Anfang Dezember 2022 ohne eine offizielle Bestätigung der Regierung verlautbart, die Sittenpolizei sei aufgelöst worden,[38][39][40] so kündigte die iranische Polizei Mitte Juli 2023 an, die Einheiten würden in Kürze wieder die Einhaltung der Kopftuchpflicht überprüfen.[41] Im August 2023 nahm eine Verschärfung der Strafen bei Verletzung der Hidschab-Pflicht Gesetzesform an.[42]

Eine von der UNHRC eingesetzte Expertenkommission kam zu dem Ergebnis, dass das iranische Regime mit der Art und Weise, wie es die Proteste unterdrückte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging.[43]

  1. David Jalilvand: (S+) Proteste in Iran: Das Fundament der Macht bröckelt – Kommentar. In: Der Spiegel. 5. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 5. Oktober 2022]).
  2. Report on 200 Days of Protest Repression/List of at Risk Protesters. Abgerufen am 19. Mai 2023 (englisch).
  3. Reuters: Iran hangs two men accused of killing security agent during protests. In: Reuters. 7. Januar 2023 (reuters.com [abgerufen am 19. Februar 2023]).
  4. [1], abgerufen am 29. November 2022.
  5. Reuters: Iran state body reports 200 dead in protests, Raisi hails ‘freedoms’. In: Reuters. 3. Dezember 2022 (reuters.com [abgerufen am 19. Februar 2023]).
  6. Hengaw Report No. 7 on the Kurdistan protests, 18 dead and 898 injured. Abgerufen am 27. September 2022 (kurdisch (arabische Schrift)).
  7. a b Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :19.
  8. Reuters: Iran hangs two men accused of killing security agent during protests. In: Reuters. 7. Januar 2023 (reuters.com [abgerufen am 19. Februar 2023]).
  9. Iran: Rauchbomben, Wandgemälde und Plakate gegen Sittenwächter. In: Der Spiegel. 1. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 2. Oktober 2022]).
  10. Monika Bolliger, Christoph Reuter: (S+) Protestbewegung in Iran: Hat das Regime gesiegt? In: Der Spiegel. 20. Januar 2023 (spiegel.de [abgerufen am 21. Januar 2023]).
  11. a b Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Reuter:Proteste.
  12. (S+) Iran: »Wollen sie aus dem ganzen Land ein Gefängnis machen?« – Tagebuch aus Teheran. In: Der Spiegel. 12. Dezember 2022 (spiegel.de [abgerufen am 15. Dezember 2022]).
  13. Wieso Iranerinnen ihre Kopftücher verbrennen. In: derstandard.de. Abgerufen am 2. Oktober 2022 (österreichisches Deutsch).
  14. Gilda Sahebi: (S+) Protest in Iran: »Was ihr seht, ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich passiert«. In: Der Spiegel. 19. November 2022 (spiegel.de [abgerufen am 19. November 2022]).
  15. Iran-Proteste: So will das Regime eine Revolution verhindern. Abgerufen am 9. Oktober 2022.
  16. David Jalilvand: (S+) Proteste in Iran: Das Fundament der Macht bröckelt – Kommentar. In: Der Spiegel. 5. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 9. Oktober 2022]).
  17. Tareq Sydiq: Youth Protests or Protest Generations? Conceptualizing Differences between Iran’s Contentious Ruptures in the Context of the December 2017 to November 2019 Protests. In: Middle East Critique. Band 31, Nr. 3, 3. Juli 2022, ISSN 1943-6149, S. 201–219, doi:10.1080/19436149.2022.2087951.
  18. a b c Anne Armbrecht, Julia Amalia Heyer, Muriel Kalisch, Mina Khani, Maximilian Popp, Christoph Reuter, Omid Rezaee, Özlem Topçu: (S+) Iran: Wie sich die Frauen trotz brutaler Repressionen die Freiheit erkämpfen. In: Der Spiegel. 25. November 2022 (spiegel.de [abgerufen am 26. November 2022]).
  19. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :15.
  20. Iran Protests: At Least 215 People Including 27 Children Killed. 17. Oktober 2022, abgerufen am 17. Oktober 2022 (englisch).
  21. Protests, Government Attack On Schoolgirls, Mark Friday In Iran. Abgerufen am 20. Oktober 2022 (englisch).
  22. Iran: Betroffene berichten über systematische Folter durch Sicherheitskräfte. In: Der Spiegel. 1. Februar 2023 (spiegel.de [abgerufen am 1. Februar 2023]).
  23. Iran: 15-jährige Schülerin stirbt nach Misshandlung durch Sicherheitskräfte. In: Der Spiegel. 20. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 20. Oktober 2022]).
  24. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :5.
  25. Gilda Sahebi: Sexuelle Gewalt im Mullah-Regime. taz.de, 25. November 2022.
  26. https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/iran-proteste-kinder-jugendliche-folter-amnesty, abgerufen am 21. März 2023.
  27. Iran verhängt erstes Todesurteil im Zusammenhang mit Protesten. In: Zeit Online. 14. November 2022, abgerufen am 14. November 2022.
  28. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :17.
  29. 400 Demonstrierende müssen für mehrere Jahre in Haft. In: Zeit Online. 13. Dezember 2022, abgerufen am 14. Dezember 2022.
  30. Alexander Epp, Klaas Neumann, Dawood Ohdah, Matthias Stahl: (S+) Wie Iran den Protest bekämpft: Die Blutspur des Regimes. In: Der Spiegel. 23. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 23. Oktober 2022]).
  31. Gilda Sahebi: (S+) Iran: Wie brutal das Regime die Kurdinnen und Kurden für ihren Widerstand bestraft. In: Der Spiegel. 22. November 2022 (spiegel.de [abgerufen am 23. November 2022]).
  32. Iran: Sicherheitskräfte gehen offenbar mit Gewalt gegen Studenten vor. In: Der Spiegel. 3. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 3. Oktober 2022]).
  33. Anna-Sophie Schneider: (S+) Iran-Expertin von Amnesty International: »Die Protestierenden nehmen ihren eigenen Tod in Kauf«. In: Der Spiegel. 23. Oktober 2022 (spiegel.de [abgerufen am 23. Oktober 2022]).
  34. Streiks aus Solidarität mit getöteten Demonstranten von Zahedan. In: zeit.de. 9. November 2022, abgerufen am 10. November 2022.
  35. Iran Protests: at Least 154 Killed/Children Amongst Dead. In: iranhr.net. Abgerufen am 5. Oktober 2022 (englisch).
  36. At least 63 killed in Iran suppression of Zahedan protest: Human rights group. In: al-Arabiya. 4. Oktober 2022, abgerufen am 5. Oktober 2022 (englisch).
  37. Iran: Aufstände gehen weiter, Zahl der Toten steigt. In: anfdeutsch.com. Abgerufen am 5. Oktober 2022.
  38. Maryam Sinaee: Despite Claim Of No ‘Morality Police’, Iran’s Hijab Crackdown Goes On. In: Iran International. Abgerufen am 8. August 2023 (englisch).
  39. Patrick Wintour, Maryam Foumani: Iran: mass strike starts amid mixed messages about abolishing morality police. In: The Guardian. 5. Dezember 2022, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 8. August 2023]).
  40. Nach Angaben des Generalstaatsanwalts: Iran soll Sittenpolizei aufgelöst haben. In: Der Spiegel. 4. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 8. August 2023]).
  41. Die Sittenwächter sind wieder da: Iran kündigt Rückkehr der Moralpolizei an. In: Der Spiegel. 16. Juli 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 8. August 2023]).
  42. Iran: Kommission billigt umstrittenes Hidschab-Gesetz – härtere Strafen bei Verstößen. In: Der Spiegel. 21. August 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 22. August 2023]).
  43. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :20.

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