Stamm (Gesellschaftswissenschaften)

Stamm – im deutschen Sprach- und Kulturraum auch speziell Volksstamm – bezeichnet eine relativ wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform, deren Mitglieder durch die oft mythische Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung sowie durch Sprache oder Dialekt, Religion, Brauchtum und Gesetz und auch durch politische Interessen zusammengehalten werden. Von dieser Vorstellung eines Stammes unterscheiden die Politikwissenschaft und die Ethnologie die übergeordnete Integrationsstufe des Staates.

Die Bezeichnung Stamm wird, vor allem von Gegnern evolutionstheoretischer Ansätze, einer tiefgreifenden Ideologiekritik unterzogen, weitestgehend abgelehnt und gerne durch den Begriff „Ethnie“ ersetzt.[1] Unter Vertretern evolutionärer Theorien, insbesondere des Neoevolutionismus, wird er jedoch weiter an zentraler Stelle verwendet und ist auch sonst in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur häufig vorzufinden, insbesondere in der Archäologie[2] und der Geschichtswissenschaft.[3] Auch in der Ethnologie ist die Definition einer Volksgruppe als „Stamm“ v. a. dann weiterhin aktuell (vergleiche beispielsweise die Scheduled Tribes in Indien), wenn sie sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen Identität der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert.

„Stamm“ ist allgemein von der biologischen „Abstammungsgruppe“ (Lineage) zu unterscheiden[4] und entspricht beispielsweise auf Afrika bezogen der „Ethnie“, die eine zwar gesellschaftlich konstruierte, aber als real aufgefasste Einheit bildet.

Nach der ethnologischen Systematisierung beziehen sich die Mitglieder eines Clans auf einen mythischen Vorfahren (oder auf ein Totem), während auf der darunter folgenden Ebene der Abstammungsgruppen ein mehr oder weniger klar feststellbarer biologischer oder geschichtlicher Stammvater oder eine Stammmutter genannt wird. Auf der darüber liegenden Ebene des Stammes ist das einigende Prinzip eher abstrakter Art (Sprache, Religion, Brauchtum, Gesetz – so auch bei den deutschen Stämmen), obwohl auch hier gelegentlich mythische Ahnen zitiert werden (etwa bei den Stämmen Israels).

Stämme schlossen sich zu Stammesverbänden oder Großstämmen zusammen (vergleiche Stammeskonföderation, Stammesgesellschaft), die dann teils als eigenes „Volk“ bezeichnet werden (etwa das „Volk der Franken“), während von Völkern ansonsten erst bei der Vereinigung von verschiedenen Stämmen zu einer Nation gesprochen wird („Volk der Deutschen“).

  1. Roy Richard Grinker: Houses in the Rainforest: Ethnicity and Inequality Among Farmers and Foragers in Central Africa. University of California Press, 1994, S. 12: “There is already a vast and critical literature on the theoretical and methodological problems of ‘tribe’ and ‘tribalism’ […] and the replacement of these terms with ‘ethnic group’ and ‘ethnicity’.” Zusammenfassend auch beispielsweise: Wolfgang Kraus: Islamische Stammesgesellschaften: Tribale Identitäten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive. Böhlau, Wien u. a. 2004, S. 27 ff.
  2. Beispielsweise Colin Renfrew, Paul G. Bahn: Archaeology: Theories, Methods and Practice. Thames and Hudson, New York 2008 (englisch).
  3. Beispielsweise Malcolm Todd: The Early Germans. 2. Auflage. Wiley-Blackwell 2004 (englisch).
  4. Wolfgang Kraus: Zum Begriff der Deszendenz: Ein selektiver Überblick. In: Anthropos. Band 92, Heft 1/3, 1997, S. 139–163.

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