Ritualmordlegende

Darstellung des angeblichen Ritualmords an Simon von Trient im Jahr 1475, aus Hartmann Schedels Weltchronik von 1493

Eine Ritualmordlegende (auch: Ritualmordfabel, Ritualmordvorwurf, Blutbeschuldigung, Blutanklage, Blutlüge; englisch blood libel) sagt gesellschaftlich diskriminierten Minderheiten Ritualmorde an Angehörigen einer Mehrheitsgruppe nach. Die Kolporteure greifen oft unaufgeklärte Entführungs-, Unglücks- oder Tötungsfälle auf, besonders von Kindern, und bieten dafür „Sündenböcke“ an. Historisch besonders folgenreich wurden Ritualmordvorwürfe im europäischen Christentum, die behaupteten: Die Juden würden heimlich christliche Kinder entführen und ermorden, weil sie deren Blut für ihre Pessachfeier und zu verschiedenen magischen oder medizinischen Zwecken bräuchten.

Solche Legenden wurden von kirchlichen Interessengruppen gezielt erfunden, erstmals 1144 in England, und mit Predigtkampagnen, Traktaten, Volkssagen und religiöser Folklore in weiten Teilen Europas verbreitet. So wurde daraus ein dauerhaftes Stereotyp des christlichen Antijudaismus. Ritualmordanklagen von Christen gegen Juden lösten jahrhundertelang immer wieder Judenpogrome, Verfolgungen und Vertreibungen jüdischer Minderheiten aus oder rechtfertigten sie nachträglich. Sie blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein „ein allgemein akzeptiertes Kulturmuster des christlichen Europa, das kirchenpolitisch und zeitweise staatspolitisch normative Geltung hatte.“[1]

Daraus entstand die Verschwörungstheorie eines angeblichen Weltjudentums, das sich heimlich für schwerste Verbrechen an Nichtjuden verabrede.[2] Ritualmordanklagen gegen Juden überdauerten die Aufklärungsepoche und wurden im modernen Antisemitismus seit 1800 erneut verbreitet. Die Nationalsozialisten benutzten die überlieferten Legenden zur systematischen Volksverhetzung vor und während des Holocaust.

Aktuell lebt die antisemitische Ritualmordlegende in verschiedenen Varianten vor allem im Rechtsextremismus und Islamismus fort.

  1. Rainer Erb: Zur Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigungen. In: Rainer Erb (Hrsg.): Die Legende vom Ritualmord, Berlin 1993, S. 9–16, hier S. 9
  2. Achim Bühl: Antisemitismus: Geschichte und Strukturen von der Antike bis 1848. Marix, Wiesbaden 2020, ISBN 3-7374-1124-7, S. 126

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